Gespenstige Szenen auf Vietnams Straßen
Gastarbeiter und ganze Familien fließen in Moped-Schwärmen vor Corona – oft ohne Bleibe, ohne Essen
Ho-Chi-Minh-Stadt, 6. August 2021. Gespenstige Szenen wie aus einem Endzeitfilm haben sich in den vergangenen Tagen in Vietnam abgespielt: Parkplätze voll mit Hunderten Menschen, ganze Familien darunter, die in Reihen auf dem nackten Betonboden schlafen. Gähnend leere Highways, auf denen plötzlich ein Polizeiauto mit gesetzten Signallichtern auftaucht, hinter sich her einen riesigen Tross aus Mopeds ziehend, viele davon völlig überbesetzt.
Direktive 16 ergreift nun auch den ganzen Süden
Hintergrund für diese Szenen: In Vietnam, das lange Zeit fast unbeschadet durch die Corona-Krise segelte, sind die Infektions-Zahlen stark nach oben geschnellt. Die Regierung und die örtlichen Volkskomitees haben Dutzende Städte und Provinzen unter die „Direktive 16“ gestellt, also: Ausnahmezustand, Ausgangssperren, Lockdown. Nur noch ausgewählte Lebensmärkte und Supermärkte dürfen öffnen.
Krisenherd Saigon
Krisenzentrum ist derzeit die südliche Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt alias Saigon, mit über zehn Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes. Seit 1. August dürfen Menschen die verseuchte Stadt auch nur noch mit Sondererlaubnis verlassen. Als dies bekannt wurde, setzten sich ganze Heerscharen von Gastarbeitern aus anderen Provinzen, die durch die Pandemie längst keine Arbeit mehr haben, auf ihre Mopeds und brachen auf – viele davon auf den über 1500 Kilometer langen Weg in die nördlichen Provinzen um Hanoi. Selbst auf deutschen Straßen und mit schnellen Autos würde dies lange dauern – auf ihren Mopeds brauchen viele von ihnen dafür über eine Woche. Und da keine Raststätte, kein Imbiss, keine Unterkunft geöffnet ist, schlafen sie auf dem Beton der Parkplätze, sind auf Essensgaben mitleidiger Anwohner angewiesen, die teils am Straßenrand stehen und kostenlos Speisen an die Umherirrenden verteilen. Und sie laufen stets in Gefahr, an einer der zahlreichen Straßensperren von Polizei, Armee oder Hilfskräften aufgehalten zu werden und zu stranden. Jeder, der sich nach dem 31. Juli aufgemacht hat, wird sowieso gestoppt oder zurückgeschickt.
Angst vor Corona-Ausbreitung durch Moped-Flüchtlinge
Angesichts dieser unhaltbaren Zustände war die Polizei zuletzt dazu übergegangen, diejenigen, die vor dem 1. August gestartet waren, zu verpflegen und in langen Schwärmen nach Norden zu begleiten – und möglichst unkontrollierte Massenansammlungen, aber auch Absetzbewegungen zu verhindern. Denn nichts ist so groß wie die Furcht, dass sich das Virus durch diese Mopedschwärme im ganzen Land weiterverbreitet.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: VTV News, Corona-Dashboard Johns Hopkins University, weitere Quellen