Nachts ruft die raue See
Aus dem Alltag eines südvietnamesischen Fischers, der mal Elektriker werden wollte
Lagi, 21. März 2022. Nguyen Van Chien ist ein mutiger Mann. Kein Krieger, Drachentöter oder Testpilot – aber er ist kaum weniger wagemutig. Der 34-Jährige ist Fischer in Lagi, einer kleinen Küstenstadt rund 160 Kilometer östlich von Ho-Chi-Minh-Stadt. Nacht für Nacht tuckert er in einer winzigen Nussschale hinaus aufs vietnamesische Ostmeer, das die Chinesen „ostchinesisches Meer“ nennen und das für seine zerstörerischen Stürme in ganz Asien bekannt ist. Wenn er genug Fische fangen will, um seine Familie zu ernähren, muss er zehn, 20 Kilometer hinaus auf See fahren, manchmal sogar 25 Kilometer: In anfangs noch tiefer Dunkelheit ganz allein in einem jener Thung Chai genannten, selbst gebauten vietnamesischen Bambus-Rundboote, die wie lackierte Körbe aussehen. Ähnlich wie er tun das Tausende Familienväter in Lagi – viele ebenfalls nur in Thung-Chai-Booten wie Chien, andere haben sich zusammengetan und sich ein halbwegs hochseetüchtiges Fischerschiff gekauft.
Video von Nguyen Van Chien: Impression von einer Ausfahrt
Nur in der Taifunsaison bleiben die Boote an Land – manchmal
Als ich Chien frage, ob er nicht manchmal Angst hat, in einen Sturm zu geraten und zu ertrinken, runzelt er erstaunt die Stirn. Als er die Bedenken des Westlers verstanden hat, grinst er und winkt ab: „Klar kann es da draußen auch lebensgefährlich sein“, räumt er ein. Aber er macht das schon acht Jahren und sein Vater noch viel länger. Da bleibt kaum Furcht übrig, zumindest nicht an normalen Tagen. Es gibt allerdings auch Nächte, vor allem in der Taifunsaison im Dezember und Januar, in denen es selbst ihm zu stürmisch ist. Aber dann gilt: keine Fahrt, kein Fang, kein Geld.
Vater wollte, dass er Elektriker wird
Früher wollte er mal Elektriker werden, erzählt er. Oder eigentlich war es sein Vater, der alte Fischer: Der Junge sollte es mal besser haben. Und so ging er nach dem zweijährigen Dienst in der Vietnamesischen Volksarmee aufs College und plagte sich mit Spannungswandlern, Widerständen und Kondensatoren. „Aber ich habe gemerkt, der Job ist nichts für mich“, sagt Chien. So zehrend die Arbeit als Fischer auch ist – schon als Kind hat er das Meer gemocht und es hat Chien wieder zu sich zurückgerufen.
1 Uhr ist Schluss mit Schlafen
Was er nun Nacht für Nacht tut, ist ein harter Job, nichts für Weicheier: Gegen 1 Uhr in der Nacht steht Chien auf, eine Stunde später sticht er meist schon in See – und sucht dann stundenlang nach schwarmreichen Gründen. An guten Tagen fängt er 100 bis 200 Kilo Sardinen, Heringe oder Makrelen, an schlechten weit weniger. Gegen 9 Uhr trudelt er dann wieder nach Lagi zurück, holt den Fang aus den Netzen und bietet die Fische dem Ankäufer an. Der zahlt meist um die 12.000 vietnamesische Dong pro Kilo, umgerechnet ist das nicht mal ein halber Euro. Natürlich weiß Chien, dass sein Fisch letztlich für einen vielfachen Kilopreis irgendwo in einem koreanischen Markt landet, aber das ist nicht sein Geschäft.
Vor allem in der Corona-Zeit wurde es eng
Auf ungefähr 15 Millionen Dong monatlich kommt er im Schnitt. Umgerechnet entspricht das 600 Euro – in Vietnam genug, um eine ganze Familie durchzukriegen. „Es gibt aber auch Monate, in denen es hinten und vorne nicht reicht“, erzählt Chien. Vor allem in der Corona-Zeit sei es schwer gewesen, die Familie über Wasser zu halten. Während der Lockdowns hat er kleine bezahlte Botengänge für die Provinzregierung übernommen. Das half, in der Krise zu wirtschaften.
Keine Seltenheit: Ein Hauptverdiener für drei bis vier Generationen
Immerhin ist Chien der Ernährer der Familie, für Frau, Kinder und letztlich auch, wie in der vietnamesischen Gesellschaft so üblich, für Eltern und weitere Verwandtschaft. Zwei Töchter hat er: Ngoc ist sieben, Chau ist vier Jahre jung. Sein Vater, der vor ihm Fischer war, ist inzwischen zu alt, um noch raus auf See zu fahren. Da es im sozialistischen Vietnam kein Rentensystem in unserem Sinne gibt, sind Menschen wie Chien oft der Hauptverdiener für drei bis vier Generationen, die unter einem Dach leben.
Kein Urlaub und kein Wochenende
Viel Freizeit bleibt in Chiens Alltag nicht. Nach dem Deal mit dem Ankäufer flicken er und seine Frau die Netze, das Boot oder den kleinen Motor der Nussschale, wenn er Schaden genommen hat. Ab 12 hat Chien etwa zwei Stunden Zeit, um zu essen und ein bisschen in der Hängematte zu lümmeln – dann beginnt der Zweijob für die Provinzregierung. In der Saison ist jeder Tag ein Fangtag, montags bis sonntags. Und das Konzept von „Urlaub“ muss ich ihm erst erklären, nachdem ich ihn danach gefragt habe.
Aus Lagi kaum mal rausgekommen
Außer während der Armee- und Collegezeit ist er bisher kaum rausgekommen aus seiner kleinen Heimatstadt am Meer. Doch, an einen Ausflug kann er sich erinnern: Der hat ihn nach Da Lat geführt, reichlich 200 Kilometer in den Norden. Dort in den kühlen Bergen hatten sich einst die französischen Kolonialherren ihre Sommerresidenzen bauen lassen, um vor der tropischen Hitze in Hanoi und Saigon zu fliehen. Heute gilt Da Lat als die Stadt der Blumen – und als Sehnsuchtsort für Menschen wie Chien, die sich eh nie im Leben einen „richtigen“ Urlaub werden leisten können. „Mit reicht es, wenn ich Freunde habe“; vertreibt der wettergegerbte Fischer exotische Reisewünsche. „Wir besuchen einander, essen zusammen – so ist es gut.“
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Interview Nguyen Van Chien, Oiger-Archiv