Ausbruch aus der kleinen Blase

Ausbruch aus der kleinen Blase

Januar 22, 2020 Aus Von Heiko
Die Lehrerin Hang Nguyen (links), die Schwestern Thuy und Thanh Nguyen (Mitte) sowie der ehemalige Vertragsarbeiter Hung Taothe. Letzterer erzählte den "zweiten Generation", wie er 1979 in die DDR kam, Betriebsschlosser wurde, erst in Weimar, dann bei Bautzen und ab 1988 in Freital. Wie weit und tief seine ostdeutschen Wurzeln inzwischen reichen, bewies er beim "Montagscafé" im Kleinen Haus Dresden mit einer Coverversion von "Über 7 Brücken muss ich gehen". Foto: Heiko Weckbrodt

Die Lehrerin Hang Nguyen (links), die Schwestern Thuy und Thanh Nguyen (Mitte) sowie der ehemalige Vertragsarbeiter Hung Taothe. Letzterer erzählte den „zweiten Generation“, wie er 1979 in die DDR kam, Betriebsschlosser wurde, erst in Weimar, dann bei Bautzen und ab 1988 in Freital. Wie weit und tief seine ostdeutschen Wurzeln inzwischen reichen, bewies er beim „Montagscafé“ im Kleinen Haus Dresden mit einer Coverversion von „Über 7 Brücken muss ich gehen“. Foto: Heiko Weckbrodt

Hier geboren, verortet als Fremde: In „Sorge 87“ setzen sich Thanh und Thuy mit vietnamesischen Vertragsarbeitern und der „zweiten Generation“ auseinander

Dresden/Werdau, 22. Januar 2020. Thanh und Thuy sind ein Jahr auseinander, 27 und 28 Jahre alt. Die beiden Schwestern kommen aus der „Sorge“. Aus einem Plattenbauviertel im sächsischen Werdau, an das sie bis heute mit gemischten Gefühlen denken. Denn mit Nachnamen heißen sie Nguyen – die vietnamesische Variante von „Müller“ oder „Schulze“. Ihre Eltern kamen 1987 als Vertragsarbeiter in die DDR. Mutter wurde Näherin in Werdau, Vater Elektrofacharbeiter in Leipzig. Und diese Wurzeln in einem 11.000 Kilometer entfernten Land, das sie selbst nur wenig kennen, haben sie hier all die Jahre immer wieder begleitet, ja verfolgt. Einen Teil ihrer Familiengeschichte haben Thanh und Thuy Nguyen in dem faszinierenden Linoldruck-Animationsfilm „Sorge 87“ verarbeitet. Den haben sie nun samt einer aufwändigen Web-Doku im „Montagscafé“ im Kleinen Haus Dresden vorgestellt – und sind auf andere aus der „zweiten Generation“ gestoßen, die ganz ähnlich fühlen.

"Montagscafé" im Kleinen Haus Dresden über Mogration in die DDR. Foto: Heiko Weckbrodt Foto: Heiko Weckbrodt

„Montagscafé“ im Kleinen Haus Dresden über Mogration in die DDR. Foto: Heiko Weckbrodt

„Was bin ich? Deutschvietnamesin? Vietnamdeutsche?“

„Seit sieben Jahren bin ich Passdeutsche“, erzählt Thuy. „Aber ich fühle mich weder als Deutsche noch als Vietnamesin. Ich frage mich selbst immer wieder: Was bin ich? Deutschvietnamesin? Vietnamdeutsche?“

Werbevideo für "Sorge 87":

Trailer Sorge 87 from [Thain] Thanh Nguyen Phuong on Vimeo.

 

In Frage gestellt und in Schubladen gepresst fühlen sich die hier geborenen Kinder der ehemaligen Vertragsarbeiter vor allem aber durch ihre Mitmenschen. „Da werde ich von Leuten gefragt: Woher kommst Du?“, berichtet eine junge Frau aus dem Montagscafé-Publikum. „Wenn ich dann sage: ,Aus Dresden’, fragen sie: Nein, ich meine: vorher? Dann sage ich: Bautzen. Und dann fragen sie wieder: Nein, deine Wurzeln? Und erst wenn ich sage: Vietnam – dann sind sie zufrieden. Das zwingt einen natürlich, sich immer wieder mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen und die Frage zu stellen: Gehöre ich hierher?“

„Ich fühle mich vor allem als Dresdnerin“

Sich nirgendwo richtig zugehörig zu fühlen, das Problem kennt auch Nguyen Xuan Thanh Hang. Die 29-jährige Dresdnerin war früher Deutschlehrerin, jetzt unterrichtet sie in Pirna Englisch und Französisch. Sie habe sich für den deutschen Pass entscheiden, aber eigentlich sei die Staatsbürgerschaft egal. „Ich fühle mich vor allem als Dresdnerin“, sagt sie. Und: „Ich habe meine Schüler gern“, sagt sie. „Aber manchmal bekomme ich von ihnen rassistische Begriffe wie Vietschi zu hören.“

„Nur raus aus Werdau.“

Ähnliches hat die Regisseurin Thanh Nguyen in ihrer Heimatstadt erlebt: „Wir haben viel Alltagsrassismus erfahren“, sagt sie. „Lange Zeit wollte ich vor allem eines: nur raus aus Werdau.“ Erst als sie als Studentin nach Berlin zog, habe sie einen Ort gefunden, an dem sie sich zu Hause fühlte, ergänzt Thuy.

Thanh und Thuy Nguyen stellen im "Montagscafé" im Kleinen Haus Dresden ihren Film "Sorge 87" vor. Foto: Heiko Weckbrodt

Thanh und Thuy Nguyen stellen im „Montagscafé“ im Kleinen Haus Dresden ihren Film „Sorge 87“ vor. Foto: Heiko Weckbrodt

Eltern kam aus dem selben Ort in Vietnam – lernten sich aber erst in der DDR lieben

Inzwischen sehen die Schwestern die Platte, aus der sie kommen, mit versöhnlicheren Augen – was auch mit „Sorge 87“ zusammenhänge. Und durch die Recherchen und die Arbeit an dem Animationsfilm verstehen sie nun ihre Eltern besser, die nach der Wende in Werdau leben bleiben wollten. Für Mutter und Vater war der Weg 1987 in die DDR ein Privileg, das nur wenige Landsleute damals bekamen. Obwohl aus dem gleichen Dorf stammend, lernten sie sich erst im „sozialistischen Bruderstaat“ richtig kennen und lieben. Was als Arbeitsaufenthalt für fünf Jahre gedacht war, wurde für beide zum Ort, in dem sie bleiben wollten – so sehr, dass sich die Mutter zeitweise sogar als „Illegale“ hier versteckte, bis sie eine Aufenthaltserlaubnis bekam. Thanh: „Werdau ist ihre kleine Blase, in der sie leben bleiben wollen.“

Autor: Heiko Weckbrodt

Weitere Montagscafés über „Migration in der DDR“, zum Beispiel über Vertragsarbeiter aus Mosambique, plant das Staatsschauspiel ab April.

Szenenbild von der animierten Web-Doko zum Film "Sorge 87". Bildschirmfotto von sorge87.de / hw

Szenenbild von der animierten Web-Doko zum Film „Sorge 87“. Bildschirmfotto von sorge87.de / hw

Notizen zu „Sorge 87“

  • Digitalisierte und animierte Linolschnitte, unterlegt mit Interview-Passagen
  • Entstanden als Bachelor-Arbeit an der FH Potsdam
  • Die Webdoku dazu gibt es unter sorge87.de – unter anderem mit weiteren animierten Interviews sowie Dokumenten zum Vertragsarbeiter-Abkommen zwischen der DDR und Vietnam