Arzt in Vietnam verdient weniger als der Fabrikarbeiter
Aus dem Alltag des vietnamesischen Radiologen Đỗ Trung Hiếu
Phan Thiet, 19. April 2022. Đỗ Trung Hiếu gehört zur Gilde der Radiologen. Jeden Tag knattert der 38-Jährige kurz vor 7 mit dem Moped in das Regierungskrankenhaus für traditionelle Medizin, schaltet die X-Ray-Geräte ein, fährt die Monitore hoch. Meist warten dann schon die ersten Patienten mit Arm- oder Beinbrüchen auf ihn. Hiếu kennt seine Röntgenapparate, weiß, was sie können und was nicht. Dass es irgendwie eben auch ohne Computertomographen und MRT gehen muss. Wenn Schmerzpatienten in seine Abteilung kommen, mindert er deren Pein gelegentlich auch mal ganz pragmatisch mit einer Massage. „Ich mag meinen Job“, sagt er. „Ich helfe gern.“ Nur reich oder auch nur wohlhabend werden könne er damit nicht.
In Europa könnte er zehnmal so viel verdienen
Ganz anders wäre das wohl, wenn Hiếu in Europa leben würde: Je nach Bundesland und Status bringt ein Radiologe in Deutschland über 2700 Euro netto pro Monat nach Hause, manche sogar doppelt soviel. Hiếu allerdings lebt in Vietnam, in der Küstenstadt Phan Thiet, gute 200 Kilometer östlich von Saigon. Und dort verdient der Arzt im Regierungskrankenhaus rund 5,6 Millionen Dong pro Monat. Umgerechnet sind das rund 220 Euro – etwa ein Drittel weniger als manch Industriearbeiter in den privaten Fabriken der vielen ausländischen Investoren, die Vietnam zur verlängerten Werkbank gemacht haben.
Oft denkt Hiếu an Frau und Kind, wenn er in der Klinik gebrochene Arme und Beine durchleuchtet: Seine Gattin und Herzdame feilt in der Zwischenzeit in einem privaten Studios Fingernägel in Form. Derweil lernt sein achtjähriger Sohn in der Schule rechnen, schreiben und lesen, aber auch, wie erst die Trung-Schwestern die Chinesen besiegten und wie knappe 2000 Jahre später Onkel Ho die Franzosen und Amerikaner aus dem Land verjagte.
Nebenjob nach der Schicht: massieren, akupunktieren, therapieren beim Patienten daheim
Damit er über den Monat „hinkommt“, arbeitet der Radiologe nach seiner Acht-Stunden-Schicht im Krankenhaus meist gleich weiter: Oft tuckert er nachmittags mit seinem Moped zu „Privatpatienten“, die seine Qualifikationen jenseits der Röntgenstrahlen zu schätzen wissen. Hiếu hilft fährt zu ihnen nach Hause, um ihnen mit Akupunktur, Massage und Physiotherapie zu helfen. Dadurch fließen in guten Monaten weitere 4,5 Millionen Dong – umgerechnet etwa 180 Euro – in die Familienkasse. Zuzüglich des Lohns, den seine Frau im Nagelstudio erhält, kommen die Drei dann ganz gut über die Runden. Auch können sie dadurch gelegentlich auch ferneren Familienmitgliedern ab und zu etwas zustecken, wie das in Vietnam nun mal so üblich ist.
Urlaub ist ein Fremdwort
Viel Zeit und Geld bleibt allerdings bei dem Pensum nicht übrig. Urlaub zum Beispiel ist für ihn ein Fremdwort – jedenfalls im europäischen Verständnis, dass die Familie gemeinsam für ein, zwei oder drei Wochen irgendwohin verreist. Aber Hiếu findet das nicht so schlimm: „Ich höre Musik, lese Bücher und bin gerne mit meiner Familie und meinen Freunden zusammen“, sagt er über seine Freizeit. Das reiche ihm schon.
Vom Militärarzt zum Bauern: Vater riet dem Sohn zu einer medizinischen Karriere
Und es hätte ja alles auch ganz anders kommen können, dann würde Hiếu jetzt vielleicht Drachenfrüchte gießen oder Reis ernten. Denn seine Eltern sind Bauern und da hätte es eigentlich nahegelegen, dass der Sohn das Feld übernimmt. Doch Hiếus Vater war früher selbst mal Mediziner. Damals, als die Amerikaner noch das Land besetzt hatten, arbeitete Đỗ senior als Militärarzt für die US-Armee. Damit war es zwar vorbei, als der kommunistische Norden gesiegt und die Invasoren vertrieben hatte, seit ist auch der Vater nicht mehr Arzt, sondern Bauer. Doch der alte Herr wollte, dass sein Sohn lieber in den weißen Kittel schlüpft, statt der roten Erde in der Provinz Binh Thuan rund um Phan Thiet mühsam Obst, Gemüse und Getreide abzuringen.
Weg übers Militär in Vietnam keine Seltenheit
Als Hiếu nach zwölf Jahren Schule zum Wehrdienst eingezogen wurde, folgte er dem Rat seines Vaters und bat darum, während der Armeezeit in einem Saigoner Armeekrankenhaus zum Sani und angehenden Arzt ausgebildet zu werden. Diese Ausbildung wurde ihm danach nämlich fürs Medizin-Aufbaustudium in einem College in Ho-Chi-Minh-Stadt anerkannt. Auch die Spezialisierung hin zum Radiologen absolvierte er bei den vietnamesischen Sicherheitskräften in einem Polizei-Krankenhaus. Dieser Weg ist in Vietnam keineswegs unüblich: Viele junge Männer legen während des mindestens zweijährigen Wehrdienstes den Grundstein für eine spätere Ausbildung. Und das Militär ragt generell in Vietnam weit in die zivile Gesellschaft hinein: Es unter hält Banken, Versicherungen, einen der beliebtesten Telekommunikations-Anbieter und dergleichen mehr.
Hiếu jedenfalls hat diesen Weg übers Militär vor allem als Chance gesehen und genutzt. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass die Armee schon vielen jungen Vietnamesen Wege zu Ausbildung und Jobs geebnet haben, die gerade für ärmere Familien ansonsten nur sehr schwer zu beschreiten sind. Für Hiếu schafften es seinerzeit die Eltern, das Geld für Studium und Unterhalt in der Großstadt aufzubringen – die finanziellen Lücken füllte der Student damals, indem er in Saigoner Gaststätten kellnerte oder sich als Bauhelfer verdingte.
Großes Gefälle zwischen den Krankenhäusern
Auch wenn Hieu heute mit seinem Job und auch seinem Krankenhaus, das sich ein Stück weit auf traditionelle chinesische Medizin spezialisiert hat, recht zufrieden ist: Verbesserungsbedarf für das vietnamesische Gesundheitswesen sieht er durchaus. Darauf angesprochen, dass nur die Großstadtkrankenhäuser richtig modern ausgestattet sind, in manch kleinerem Krankenhaus aber veraltete Technik, Schimmelflecken, Schmutz und Versorgungsmängel unübersehbar sind, sieht Hiếu vor allem zwei Gründe: erstens zu wenig Geld für die Klinken und zweitens das recht uneinheitliche Ausbildungsniveau der Krankenschwestern, ja selbst der Ärzte. Zudem haben die meisten Vietnamesen keinerlei Krankenversicherung, müssen also jeden Arztbesuch aus eigener Tasche bezahlen. Angesichts der dynamischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation, die das Land derzeit durchmacht, könnte sich der eine oder andere Punkt aber womöglich in naher Zukunft verändern.
Autor: Heiko Weckbrodt
Quellen: Interview Đỗ Trung Hiếu, Oiger-Besuche vor Ort, Wikipedia, doctari.de
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